- Zeitbewusstsein und Zeiterleben
- Zeitbewusstsein und Zeiterleben»Gesundheit«, so heißt es in der Präambel der Weltgesundheitsorganisation WHO von 1949, sei »ein Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens.« Erfüllt wird sie jedoch nur, wenn sich die Dynamik der modernen Welt wieder mit dem eigenen Lebensrhythmus verbindet. Die Suche nach der verlorenen Zeit ist inzwischen zu einem Schlüssel für den Weg in die Zukunft geworden. Doch welche Facetten der Zeit sind für die Menschen unverzichtbar? Und wo lassen sich Modelle für die Aspekte des Zeiterlebens finden, die die Defizite beheben? — »Was ist also Zeit?«, fragte bereits der Philosoph Augustinus (354 bis 430 n. Chr.) in seinen »Bekenntnissen« und fuhr fort: »Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre.« Obwohl man normalerweise sofort versteht, was mit langer oder kurzer Zeit gemeint ist, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbstverständlich unterscheidet, ist Zeit für denjenigen, der fragt, was sie denn eigentlich sei, nur schwer zu beschreiben.Zur Genese des ZeitbewusstseinsAugustinus' Formulierung weist bereits auf ein zentrales Problem hin: Ist die Wirklichkeit selbst zeitlich verfasst? Oder ist die Zeit, wie Kant (1724 bis 1804) glaubte, nur die Form, die das menschliche Bewusstsein den Sinneseindrücken verleiht? Dass beide Sichtweisen miteinander verflochten sind, zeigt die Genese des Zeitbewusstseins: Die spezifisch menschliche Form der Zeitwahrnehmung ist durch die Evolution entstanden. Zeit können wir deshalb nur vermittels der menschlichen Form des Bewusstseins erkennen.Um Zeit bewusst zu erleben, müssen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschieden werden. Obwohl bereits Tiere zukunftsbezogen agieren und auch ihr Verhalten von weit zurückliegenden Ereignissen beeinflusst wird, haben sie noch keine Vorstellung von Vergangenheit oder Zukunft. Sie gehört zu den wichtigsten geistigen Fähigkeiten, die die Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnen und ihr spezifisches Verhaltensspektrum ermöglichen.Die Struktur der menschlichen Zeitwahrnehmung erklärt sich jedoch erst aus dem Zusammenspiel verschiedener Facetten der Intelligenz: Die Fähigkeit, Symbole zu bilden, ist die Grundlage der Sprache, der Wissenschaften und künstlerischer Darstellungen; das Abstraktionsvermögen ist die Voraussetzung technischer Erfindungen und weltanschaulicher Deutungen, von Wissenschaft und Religion gleichermaßen; durch das Selbstbewusstsein schließlich können Bedürfnisse, Ziele und Handlungen bewusst wahrgenommen, reflektiert und — unabhängig von Erfahrungen — korrigiert werden.Das Zusammenspiel dieser Fähigkeiten verändert nicht nur das Verhältnis zu sich selbst, sondern auch zur Welt, zu anderen Menschen und zur Natur: Die Rhythmen der Natur verlieren ihren bestimmenden Einfluss auf das individuelle und soziale Leben. Sie werden zur Grundlage von Zeitmessungen, die wiederum die Koordination sozialer Handlungen ermöglichen. Schließlich kommen durch die Verbindung des Selbstbewusstseins mit der Zeitvorstellung sogar der Anfang und das Ende des Lebens in den Blick. Dass die Neandertaler ihren Toten Blumen ins Grab legten, bezeugt, dass sie bereits um den Tod als Endpunkt des Lebens wussten und ihn vermutlich mythisch deuteten. Auch die Darstellung von Tier- und Jagdszenen in Höhlen zeigt, dass ihre Urheber eine Vorstellung von Vergangenheit oder Zukunft, Erlebtem oder Erwartetem hatten. Doch obwohl das Zeitbewusstsein als Folge der Evolution ein Merkmal der Gattung Mensch ist, muss es sich, so haben die Studien von Jean Piaget (1896 bis 1980) gezeigt, im Laufe der ersten Lebensjahre erst entwickeln. Bis zum Alter von 18 Monaten leben Kinder nur in der Gegenwart. Erst mit etwa sechs bis acht Jahren können sie vergangene und zukünftige Distanzen abschätzen und die Zeit einteilen. Sie wissen, dass man die Zeit messen kann und der subjektiv empfundene Zeitraum nicht unbedingt mit dem objektiv festgestellten übereinstimmt. Doch erst mit ungefähr 13 Jahren, wenn sich die mathematisch-logische Form der Intelligenz entwickelt, erkennen sie, dass die von der Uhr angezeigte Zeit auf einer sozialen Konvention beruht.Die Struktur des menschlichen ZeiterlebensAnders als die Dinge im Raum ist die Zeit nicht sinnlich wahrnehmbar. Sie bleibt eigentümlich ungreifbar, denn alles Vergangene ist nicht mehr und alles Zukünftige ist noch nicht; die Gegenwart wiederum erscheint nur als ein unvorstellbar kleiner, nicht mehr messbarer Augenblick, in dem sich der Umschlag von der Vergangenheit in die Zukunft vollzieht. Während die Zukunft bis zu einem gewissen Grad unbestimmt und unvorhersehbar ist, wurden in der Vergangenheit Fakten geschaffen, die sich im Nachhinein nicht mehr verändern lassen; handeln wiederum kann man nur in der Gegenwart.Die menschliche Zeiterfahrung erklärt sich erst aus dem Zusammenspiel der drei Dimensionen der Zeit. Würde das Leben nur an vergangenen Erfahrungen ausgerichtet, wäre jede Erneuerung unmöglich. Würde man umgekehrt über keine Erinnerungen verfügen, wäre jede Situation neu. Schon einfache Handlungen wären — wie bei kleinen Kindern — außerordentlich mühsam. Nur aufgrund der Erinnerung kann man Neues von Gewesenem unterscheiden und sinnlose Wiederholungen vermeiden. Die Offenheit der Zukunft verdankt sich gerade nicht der distanzlosen Jagd nach Neuem. Entwicklung gibt es erst, wenn sich die Erinnerung an Gewesenes mit der Fähigkeit verbindet, neue Impulse aufzugreifen und dadurch das erworbene Wissen zu erweitern und zu transformieren.Zeit erleben die Menschen freilich nicht nur für sich alleine. Der Mensch, so formulierte bereits Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), sei ein mit Sprache und Vernunft begabtes Gemeinschaftswesen; er werde, so schrieb später Martin Buber (1878 bis 1965), »erst am Du zum Ich«. Jeder Mensch ist auf persönliche Begegnungen und soziale Verpflichtungen angewiesen, um sich entfalten zu können. Daher sind auch die Zeitbestimmungen der Gesellschaft, ohne die es kein soziales Leben gäbe, kein dem Individuum nur von außen aufgezwungenes Maß. Die sozialen Zeitbestimmungen sind wiederum eine Bedingung für die Entwicklung der Kultur. Um zusammenzuleben, müssen verschiedene Tätigkeiten immer wieder über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg koordiniert werden. Erfahrungen werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben und gemeinsame Ziele formuliert; wichtige Ereignisse werden chronologisch geordnet und als die Geschichte eines Stamms, eines Volks oder sogar der ganzen Menschheit tradiert.Die kollektiven Zeitbestimmungen beruhen auf der Fähigkeit des menschlichen Geists, Erlebtes zeitlich miteinander zu verknüpfen, es zu synthetisieren und symbolisch darzustellen. Bedeutungstragende Zeichen, Linien, Laute, Farben oder Klänge, die einen Inhalt vermitteln, liegen der Sprache ebenso wie der Mathematik und der Kunst zugrunde. Durch diese Symbole können sich Menschen über die Formen ihres Zusammenlebens verständigen. Die Entwicklung und der Gebrauch von Symbolen zur zeitlichen Orientierung wird in einem generationenübergreifenden Prozess des sozialen Lernens erworben. Erst die Erfindung von Kalendern erlaubt den zielgerichteten, planenden Umgang mit Zeit und eine genaue Datierung von Ereignissen. Im sozialen Kontext erscheint die Zeit daher als ein von Menschen und für sie geschaffenes Symbol, das auf Übereinkunft beruht. Erst die symbolische Darstellung der Zeit erlaubt die Überschreitung biologischer Rhythmen und unmittelbar gefühlter Bedürfnisse.Doch auch die Bestimmung der sozialen Zeit erfolgt letztlich aufgrund rhythmischer Prozesse in der Natur. Beim Kalender kann man noch mühelos erkennen, wie soziale Abläufe und Naturprozesse einander zugeordnet werden. Doch auch in den hoch technisierten Ländern wird das Zeitnormal durch einen — wenn auch vergleichsweise unanschaulichen — natürlichen Prozess festgelegt: Die Schwingungsfrequenz der Spektrallinie eines Übergangs innerhalb des Cäsium-Atoms gibt das Maß für die Einteilung zeitlicher Abstände. Eine Sekunde wird dabei definiert als die Zeitdauer von 9192631770 Schwingungen des Übergangs zwischen zwei Hyperfeinstrukturniveaus des 133-Cäsium-Atoms.Schon jetzt lässt sich erkennen, dass die Frage, was Zeit ist und wie sie erlebt wird, nicht nur den menschlichen Geist betrifft. Auch die physiologischen Prozesse des menschlichen Leibes haben eine zeitliche Dynamik. Wie, so muss man daher fragen, wirken sich diese Rhythmen auf das Lebensgefühl insgesamt aus? — Die Fähigkeit, sich Vergangenheit und Zukunft vorstellen zu können, erweitert den menschlichen Lebenshorizont noch in einer weiteren Hinsicht: Nur die Menschen wissen, dass sie irgendwann sterben werden. Die bewusste Erfahrung des Todes löst daher unweigerlich die Frage aus, ob es etwas gibt, das die Zeit und den eigenen Tod überschreitet. Unabhängig davon, wie ein Mensch diese Frage beantwortet, entspringt sie selbst der Form, in der Menschen Zeit erleben.Priv.-Doz. Dr. Regine KatherWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Zeit und Ewigkeit im antiken WeltbildZeit und BewusstseinZeiterleben im interkulturellen VergleichAchtner, Wolfgang u. a.: Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen. Darmstadt 1998.Klassiker der modernen Zeitphilosophie, herausgegeben von Walther C. Zimmerli u. a. Darmstadt 1993.Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit? Neuausgabe Frankfurt am Main u. a. 1997.Whitrow, Gerald J.: Die Erfindung der Zeit. Aus dem Englischen. Hamburg 1991.Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen — Analysen — Konzepte, herausgegeben von Antje Gimmler u. a. Darmstadt 1997.
Universal-Lexikon. 2012.